Historische Schuppenproben zeigen Verlust von genetischer Vielfalt in allen heutigen Felchenarten des Bodensees

Genetische Vielfalt ist überlebenswichtig

Biologische Vielfalt gliedert sich in verschiedene Ebenen. Die Vielfalt beginnt bei Genvarianten und reicht über die Artenvielfalt bis hin zur Vielfalt an Lebensräumen und Ökosystemen. Wenn ausserhalb der Wissenschaft von Biodiversität die Rede ist, ist allerdings oft lediglich die Artenvielfalt gemeint. Gerade im Kontext der momentanen Biodiversitätskrise liegt der Fokus meist auf dem Aussterben von Arten, bzw. dem Verlust der Artenvielfalt.

Im Zuge von Klimawandel und Lebensraumverlust ist eine hohe Anpassungsfähigkeit für viele Arten überlebenswichtig, da sich die Umweltbedingungen ständig verändern. Sind innerhalb einer Art viele verschiedene Genvarianten vorhanden, erhöht der sogenannte Portfolio-Effekt die Wahrscheinlichkeit, dass eine dieser Genvarianten in den neuen Umweltbedingungen von Vorteil ist. Ein Träger einer solchen Genvarianten hat zum Beispiel eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit oder mehr Erfolg in der Fortpflanzung, so dass sich die Variante innerhalb der Art ausbreiten kann. Im Zuge dieser Ausbreitung der Genvariante verbessert sich die Anpassung der gesamten Art an die neuen Umweltbedingungen. Deshalb hat eine hohe genetische Vielfalt oft einen positiven Einfluss auf die Anpassungsfähigkeit von Arten während Umweltveränderungen (siehe z.B. Jensen & Leigh, 2022).

 

Felchenertrag im Bodensee schwankt über die Zeit stark

Ursprünglich gab es im Bodensee vier verschiedene Felchenarten: Blaufelchen, Gangfisch, Sandfelchen und Kilch (siehe z.B. auch hier). Der einst in der Tiefe lebende Kilch ist während des letzten Jahrhunderts, vermutlich aufgrund der hohen Nährstoffeinträge, ausgestorben (Vonlanthen et al. 2012). Allerdings ist davon auszugehen, dass auch die überlebenden Arten durch die Nährstoffsituation und die daraus resultierende Überdüngung des Sees während den 1960er und 1970er Jahre beeinflusst wurden (Vonlanthen et al. 2012). So konnten sich beispielsweise die Blaufelcheneier aufgrund des Sauerstoffmangels am Seegrund nicht mehr richtig entwickeln und starben ab (Deufel, Löffler & Wagner 1986; Wahl & Löffler 2009).

Heute sind die Felchenerträge im Bodensee auf einem historischen Tiefpunkt angelangt. Vor wenigen Monaten wurde deshalb die komplette Schonung der Felchenbestände des Bodensee-Obersees beschlossen, voraussichtlich für die nächsten drei Jahre. Über die Gründe für diesen Ertragseinbruch kann nur spekuliert werden. Der Klimawandel, der starke Befischungsdruck, invasive Arten und die sich ständig ändernde Nährstoffsituation hatten aber sicher einen Einfluss auf alle drei heutigen Felchenarten des Bodensees (Rey et al. 2023).

 

Abbildung 1: Historische Felchenschuppe unter dem Mikroskop. Man erkennt die Wachstumsringe, die entstehen, wenn die Fischschuppe wächst. Diese können zur Altersbestimmung verwendet werden können. Da sich das Wachstum in den kälteren Wintermonaten verlangsamt, liegen die einzelnen Wachstumsringe näher zusammen. Dabei entstehen jeden Winter dunklere «Jahresringe». Die Jahresringe sind im Bild in roter Farbe hervorgehoben. Dieser Fisch war vermutlich ca. 5 Jahre alt (Bild: Oliver Selz; Eawag).

 

 

Historische Schuppensammlungen können Veränderungen über die Zeit aufzeigen

Am Bodensee wurden zur Überwachung der Felchenbestände seit Anfang des 19. Jahrhunderts in regelmässigen Abständen Schuppenproben von allen Felchenarten konserviert und aufbewahrt. Diese umsichtigen Bestandeskontrollen der Fischereibehörden um den Bodensee sind heute für die Wissenschaft von unschätzbarem Wert: Wenige Schuppen reichen bereits aus, um das gesamte Erbgut eines Fisches zu analysieren. Dabei entstehen riesige Datenmengen. Das Erbgut eines Felchens besteht aus insgesamt ~2.5 Milliarden Bausteinen, den sogenannten Basenpaaren. Vereinfacht gesagt: Rechnet man mit 5000 Zeichen pro A4 Seite, entstehen für jeden untersuchten Fisch Daten, die in ein Buch mit 500'000 Seiten abgedruckt werden müssten. Eine kürzlich veröffentlichte Studie der Eawag und der Universität Bern nutzte diese gesammelten historischen Schuppenproben, um das Erbgut Bodenseefelchen zu untersuchen, die vor ungefähr 100 Jahren gelebt haben. Die Studie konnte mithilfe der Schuppenproben zeigen, wie sich das Erbgut und verschiedene Genvarianten im Einfluss der sich ändernden Umweltbedingungen während des letzten Jahrhunderts mitverändert haben.

 

Abbildung 2: A) Nährstoffsituation des Bodensees über die Zeit, gemessen am Gesamtphosphor. Die Nährstoffbelastung steigt bis ca. 1980 an, und fällt danach aufgrund der Verbesserung der Kläranlagen wieder auf natürliches Niveau. B) Entwicklung der genetischen Vielfalt der drei heutigen Bodenseefelchenarten über die Zeit. Die Vielfalt innerhalb aller drei Arten hat stark abgenommen. Abbildung angepasst aus Frei et al. (2024).

 

 

 

Grosser Verlust an genetischer Vielfalt

In den genetischen Daten zeigt sich ein deutliches Muster: Alle drei Felchenarten haben einen beträchtlichen Teil ihrer ursprünglichen genetischen Vielfalt während den letzten ~50–60 Jahren verloren (Abbildung 2). Dieser Verlust von Vielfalt betrifft das gesamte Erbgut und deshalb auch viele verschiedene Gene. Betroffen sind auch Gene, die wichtige ökologische Funktionen haben, wie zum Beispiel eine Genvariante die bei der Entwicklung der Anzahl Kiemenreusendornen beteiligt ist (De-Kayne et al. 2022). Es ist deshalb zu vermuten, dass auch Genvarianten verloren gingen, die für die Anpassung an die sich aktuell rasch verändernden Umweltbedingungen von Vorteil wären. Ob dieser Verlust an genetischer Vielfalt direkt zum Ertragseinbruch der Felchenbestände beigetragen hat, kann die Studie mit den verfügbaren Daten nicht aufzeigen. Trotzdem belegen die Daten den negativen Einfluss der menschlichen Aktivitäten während des letzten Jahrhunderts und eröffnen eine neue Perspektive rund um die aktuelle Diskussion zur Situation um die Felchenbestände des Bodensee-Obersees.

 

 

Literatur:

Deufel, J., Löffler, H., Wagner, B. (1986). Auswirkungen der Eutrophierung und anderer anthropogener Einflüsse auf die Laichplätze einiger Bodensee-Fischarten. Österreichs Fischerei.

 

 

Frei, D., Mwaiko, S., Seehausen, O. & Feulner, P.G.D. (2024). Ecological disturbance reduces genomic diversity across an Alpine whitefish adaptive radiation. Evolutionary Applications.

 

De-Kayne, R., Selz, O.M., Marques, D.A., Frei, D, Seehausen, O., Feulner, P.G.D. (2022). Genomic architecture of adaptive radiation and hybridization in Alpine whitefish. Nature Communications.

 

Jensen, E. L., Leigh, D. M. (2022). Using temporal genomics to understand contemporary climate change responses in wildlife. Ecology and Evolution.

 

Rey, P. et al. (2023). Felchen im Bodensee – gestern, heute, morgen. Aqua & Gas.

 

Vonlanthen, P. et al. (2012). Eutrophication causes speciation reversal in whitefish adaptive radiations. Nature.

 

Wahl, B., Löffler, H. (2009). Influences on the natural reproduction of whitefish (Coregonus lavaretus) in Lake Constance. Canadian Journal of Fisheries and Aquatic Sciences