Herkunft der Stichlingsvielfalt im Bodensee entschlüsselt

Neue Arten können rasch entstehen, wenn neue Nischen erschlossen werden. Aber genetische Mutationen sind selten, wie ist also eine so schnelle ökologische Artbildung überhaupt möglich? Die erst vor kurzem im Bodensee entstandenen See- und Bachökotypen von Stichlingen geben darauf eine überraschende Antwort.

Die meisten Fischer nehmen den kleinen Dreistachligen Stichling kaum wahr. Doch am Bodensee lernten ihn die Berufsfischer vor einigen Jahren unfreiwillig besser kennen. Dieses Aufeinandertreffen ist relativ neu, denn Stichlinge traten historisch gesehen nicht im Einzugsgebiet des Bodensees auf. Sie wurden aber im 19. Jahrhundert vom Menschen eingeführt.

Stichlinge sind heute nicht nur enorm häufig im Bodensee, sondern sie werden auch bis zu elf Zentimeter lang. Dicke Knochenplatten an den Körperseiten und lange Dornen an Rücken und Bauch bilden einen Schutzpanzer vor Raubfischen und fischfressenden Vögeln. Stichlinge aus Bächen und aus dem See unterscheiden sich aber stark: In Bächen sind die Fische kleiner, weniger gepanzert und haben sich darauf spezialisiert, bodenlebende Wirbellose statt Plankton zu fressen. Doch obwohl See- und Bachstichlinge sich am selben Ort fortpflanzen, bleiben überraschenderweise die deutlichen phänotypischen Unterschiede zwischen den zwei Typen erhalten. Eine Analyse genomweiter DNA-Sequenzen durch den Eawag-Biologen David Marques ergab, dass die Ökotypen von Seen und Bächen genetisch nicht sehr unterschiedlich sind, was darauf hinweist, dass die Ökotypen erst seit der Besiedlung des Bodensees vor etwa 150 Jahren entstanden sind. In einer kürzlich veröffentlichten Studie im Fachmagazin «Nature Communications» kombinierte ein Team um Ole Seehausen und David Marques phänotypische, mitochondriale und genomische Daten von vielen Bodensee-Stichlingspopulationen und umliegenden europäischen Populationen. Mithilfe von Modellen und Gendaten konnten die Forschenden die Herkunft der Bodensee-Stichlinge und der genetischen Unterschiede rekonstruieren.

Die Analysen haben etwas bisher Unbekanntes in der Stichling-Biologie aufgedeckt: Zwei Süsswasserpopulationen, die sich über Tausende von Generationen isoliert in unterschiedlichen Einzugsgebieten unabhängig voneinander entwickelt haben, trafen plötzlich im Bodenseeraum wieder aufeinander und bildeten eine Hybridzone an der Grenze zwischen See- und Bachlebensräumen. Nicht alle Bäche rund um den Bodensee beherbergen aber den gleichen „Bachstichling“: Stichlinge in den Bächen nördlich und westlich des Sees sind grösstenteils westeuropäischen Ursprungs. In den Bächen südlich des Bodensees, wie auch im See leben hingegen Stichlinge überwiegend osteuropäischen Ursprungs. Der genetische Austausch zwischen West- und Osteuropäischen Stichlingen in den Unterläufen von Bächen führte dazu, dass in diesen Bächen südlich des Bodensees relativ rasch neue Bachstichlinge innerhalb der osteuropäischen Linie entstanden. Tragen diese neuen Erkenntnisse dazu bei zu erklären, weshalb sich die Stichlinge im Bodensee in jüngster Zeit so erfolgreich vermehren? Ja und nein, sagt David Marques. Einerseits nein, die ökologischen Ursachen dafür, warum Stichlinge so verbreitet ist, haben die Forschenden in dieser Studie nicht untersucht. Andererseits ja, denn der nun erstmals identifizierte osteuropäische Ursprung der Stichlinge könnte deren Erfolgsrezept sein. In Osteuropa südlich der Ostsee zeigen Stichlinge nämlich einen marinen Phänotyp – lange Dornen und einen vollen Satz seitlicher Knochenplatten – der es den Stichlingen ermöglichte das riesige Freiwasser des Bodensees zu besiedeln. Anders in Seen der Westschweiz, wo westeuropäische Stichlinge ausgesetzt wurden, deren Phänotyp sich weniger für die Besiedlung von Freiwasser eignet und die entsprechend weniger häufig in grossen Seen vorkommen. Das seien allerdings bisher nur Hypothesen, die noch nicht näher geprüft wurden, betont Marques.