Fischwanderungen - Der Einfluss der Abwesenden

Wenn Tiere in ein Ökosystem wandern, verwandelt sich dieses kurzzeitig in ein Schlaraffenland für Raubtiere. Aber auch im Ökosystem, aus dem die Tiere ausgewandert sind, verändern sie durch ihre Abwesenheit die Nahrungsnetze.

In seichten skandinavischen Seen fressen Hechte am liebsten Rotaugen, die 70-80% ihrer Beute ausmachen. In Seen mit unverbauten Zu- oder Abflüssen frassen Hechte im Winter aber kleinere Beute und wurden entsprechend magerer. Anders ihre Artgenossen in isolierten Seen: Ihre Kondition blieb das ganze Jahr über etwa gleich. Das hat ein internationales Forschungsteam um Jakob Brodersen von der Eawag untersucht. Die Resultate entsprechen den Erwartungen der Forschenden: in „offenen" Seen wandert jeweils ein Teil der Rotaugen im Winter aus - vor allem die grössten Tiere aus Freiwasserschwärmen. So können sich die grössten Rotaugen, die in den nahrungsarmen Bächen gut überleben, im Winter vor den Hechten in Sicherheit bringen und die Chance auf eine erfolgreiche Fortpflanzung erhöhen.

Bei ihrer Rückkehr beginnt für die Hechte aber ein "Fest": Sie legen schnell Gewicht zu und werden bald dicker als ihre Artgenossen in isolierten Seen. Zudem ändert sich in diesen Phasen der ganze Fluss der Energie von Algen über Plankton zu grösseren Tieren. Diese Effekte entstehen praktisch ausschliesslich durch die zeitlich schwankende Verfügbarkeit von Nahrung in den Ökosystemen. Was die Abwesenheit von wandernden Beutetieren nicht nur für ihre Jäger, sondern für ein ganzes Ökosystem bedeutet, wurde vorher noch nicht wissenschaftlich erfasst. Weitwanderungen wie etwa die Laichwanderungen von Lachsen sind zwar spektakulär, bilden aber nur einen Teil des Puzzles. Um die Lebensweise einzelner Arten und die Stabilität von Ökosystemen zu verstehen, muss auch die lokale Wanderung von Teilpopulationen angeschaut werden. Die Studie zeigt somit einmal mehr, wie einschneidend künstliche Wanderungshindernissen sein können – denn diese betreffen nicht nur einzelne Tierarten, sondern auch das Funktionieren von ganzen Ökosystemen.